BAG-Entscheidung: Arbeit auf Abruf – Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit

01.11.2023

Am 18. Oktober 2023 veröffentlichte das Bundesarbeitsgericht (BAG) eine Pressemitteilung zu einer praxisrelevanten Entscheidung über die Bestimmung der wöchentlichen Arbeitszeit bei Arbeit auf Abruf (BAG, Urteil vom 18. Oktober 2023 – 5 AZR 22/23).

Hintergrund: Arbeit auf Abruf

Unternehmen können mit ihren Beschäftigten Arbeit auf Abruf vereinbaren. Arbeit auf Abruf bedeutet, dass Beschäftigte keine feste Arbeitszeit haben, sondern bei betrieblichem Bedarf flexibel nach Weisung des Unternehmens tätig werden.

Bei der Vereinbarung von Arbeit auf Abruf sind allerdings zwingende gesetzliche Regelungen zu beachten. Diese sind in § 12 des Teilzeit- und Befristungsgesetzes (TzBfG) geregelt. Insbesondere ist in der Abrufvereinbarung eine bestimmte Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit festzulegen. Damit ist gewährleistet, dass Abrufbeschäftigte stets eine Vergütung entsprechend dieser Arbeitszeit erhalten, selbst wenn das Unternehmen das Stundenkontingent nicht ausschöpft. Ein Abruf über die vereinbarte wöchentliche Arbeitszeit hinaus ist zusätzlich zu vergüten.

Fehlt es an einer Vereinbarung der wöchentlichen Arbeitszeit, gilt gemäß § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG eine wöchentliche Mindestarbeitszeit von 20 Stunden als vereinbart. Die Fiktion hat den Zweck, eine arbeitsvertragliche Lücke zu schließen. Es soll keine wöchentliche Arbeitszeit von Null gelten können.

Doch wann gilt – abseits von ausdrücklichen Vertragsregelungen – eine bestimmte wöchentliche Arbeitszeit als vereinbart und wann greift die Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG ein? Greift der Mindestumfang von 20 Stunden auch dann ein, wenn das Unternehmen über Jahre hinweg mehr als 20 Stunden abruft? Diese Fragen stellen sich in der Regel dann, wenn das Unternehmen den Abruf reduziert. Einen solchen Fall hatte das BAG nun zu entscheiden.

Sachverhalt

Der Entscheidung des BAG lag die Klage der Mitarbeiterin einer Druckerei zugrunde. Die Klägerin war seit dem Jahr 2009 als Abrufkraft beschäftigt. Ihr Arbeitsvertrag enthielt keine Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit. Die beklagte Arbeitgeberin zog sie in zeitlich schwankendem Umfang zur Arbeit heran. Während der Jahre 2017 bis 2019 wurde sie nach eigener Berechnung 103,2 Stunden monatlich eingesetzt, also etwa 23,7 Stunden pro Woche. Als die Arbeitgeberin ab 2020 deutlich weniger Arbeit abrief, kam es zum Streit. Die Mitarbeiterin verlangte den Lohn für die nicht in Anspruch genommene Arbeit für die Jahre 2020 und 2021. Diesen berechnete sie anhand der Durchschnittswerte der Jahre 2017 bis 2019. Eine ergänzende Vertragsauslegung ergebe, dass diese Durchschnittswerte die vertraglich festgelegte Arbeitszeit bildeten.

Was hat das BAG entschieden?

Wie bereits die Vorinstanzen lehnte das BAG die Rechtsauffassung der Klägerin ab. Die durchschnittliche Inanspruchnahme der Arbeit der Klägerin begründe nicht die Annahme, diese Durchschnittswerte seien als Mindestarbeitszeit vereinbart. Vielmehr fehle die Vereinbarung einer wöchentlichen Arbeitszeit. Daher greife die Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG ein, wonach 20 Wochenstunden als vereinbart gelten. Der Klägerin stand ein Vergütungsanspruch damit nur insoweit zu, als das bereits erbrachte Entgelt unter der Vergütung von 20 Wochenstunden lag.

Das BAG führte aus, dass die Vertragsparteien zwar ausdrücklich oder konkludent eine andere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbaren könnten, nachdem eine anfängliche arbeitsvertragliche Lücke zunächst durch die Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG geschlossen wurde. Für die Annahme einer solchen abweichenden Abmachung reiche das Abrufverhalten des Unternehmens in einem bestimmten, lange nach Beginn des Arbeitsverhältnisses liegenden und scheinbar willkürlich gegriffenen Zeitraum aber nicht aus. Allein aufgrund des Abrufverhaltens könne nicht angenommen werden, das Unternehmen wolle sich an eine von § 12 Abs. 1 Satz 3 TzBfG abweichende höhere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit binden. Auch die Bereitschaft von Abrufbeschäftigten, länger zu arbeiten, reiche nicht aus, um von einem entsprechenden langfristigen Bindungswillen auszugehen.

Was bedeutet das für die Praxis?

Die Entscheidung des BAG zeigt die Grenzen auf, die das Gesetz den Gestaltungsmöglichkeiten der Arbeit auf Abruf setzt. Fehlt es in einer Abrufvereinbarung an einer Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit, greift die gesetzliche Fiktion über die Vereinbarung einer Mindestarbeitszeit von 20 Stunden die Woche ein. Das spätere tatsächliche Abrufverhalten des Unternehmens lässt diese fingierte Vereinbarung unverändert.

Es bleibt offen, ob und wann Ausnahmen zu dieser Regel eintreten. Grundsätzlich hält das BAG ein konkludentes Abweichen von der Fiktion des § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG für möglich: Wenn die Fiktion im betreffenden Arbeitsverhältnis keine sachgerechte Regelung sei und objektive Anhaltspunkte dafür vorlägen, dass die Vertragsparteien bei Kenntnis der Regelungslücke eine höhere oder niedrigere Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit vereinbart hätten, sei eine ergänzende Vertragsauslegung vorzunehmen. In der Vergangenheit hat das BAG eine solche Ausnahme etwa für den Fall angenommen, dass die Abrufvereinbarung eine von § 12 Abs. 1 S. 3 TzBfG abweichende Mindestarbeitszeit festlegt, diese Vereinbarung jedoch unwirksam ist. Dann seien hinreichende Anhaltspunkte für einen abweichenden Parteiwillen gegeben (vgl. BAG, Urteil vom 7. Dezember 2005 – 5 AZR 535/04). Ob das BAG nunmehr zu weiteren möglichen Ausnahmefällen Stellung nimmt, bleibt abzuwarten. Die Pressemitteilung enthält insoweit noch keine näheren Hinweise. Einzelheiten könnten sich aber aus den noch zu veröffentlichenden Entscheidungsgründen ergeben.

Trotz möglicher Ausnahmen sollten Unternehmen in der Regel eine ausdrückliche Regelung zur Dauer der wöchentlichen Arbeitszeit in Abrufvereinbarungen aufnehmen, um die gesetzliche Fiktion über die Vereinbarung einer Mindestarbeitszeit von 20 Stunden die Woche zu vermeiden. Hinzukommt, dass das im Jahr 2022 geänderte Nachweisgesetz bei der Vereinbarung von Arbeit auf Abruf eine schriftliche Festlegung der mindestens zu vergütenden Stunden vorschreibt. Verstöße gegen das Nachweisgesetz können mit einem Bußgeld geahndet werden.

Das TzBfG und das Nachweisgesetz fordern zudem die Festlegung weiterer Einzelheiten zur Arbeit auf Abruf. So müssen Abrufvereinbarungen einen Zeitrahmen für die Erbringung der Abrufarbeit und eine Mitteilungsfrist von mindestens vier Tagen vor dem Abruf vorsehen.

Um die mit der Arbeit auf Abruf angestrebte Flexibilität zu erhalten, müssen Unternehmen daher die Abrufvereinbarung sorgfältig formulieren und an die im Einzelfall gewünschte Gestaltung anpassen.