Paukenschlag aus Erfurt: Führen Fehler im Massenentlassungsverfahren nicht mehr zur Unwirksamkeit von Kündigungen?

15.12.2023

Der Sechste Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) hatte gestern über gleich drei Verfahren zu entscheiden, die verschiedene Verstöße von Arbeitgebern gegen die Vorgaben des Anzeige- und Konsultationsverfahrens nach § 17 Abs. 1, 3 und Abs. 2 KSchG zum Gegenstand hatten. Dabei erklärte der Sechste Senat, dass er beabsichtige seine ständige Rechtsprechung im Zusammenhang mit Fehlern im Massenentlassungsverfahren aufzugeben. Nach Ansicht der zuständigen Richterinnen und Richter sollen Kündigungen zukünftig, anders als bislang, nicht im Sinne von § 134 BGB unwirksam sein, wenn im Zeitpunkt ihrer Erklärung keine oder eine fehlerhafte Anzeige nach § 17 Abs. 1, Abs. 3 KSchG vorliegt.

Damit würden Arbeitgeber in der Umsetzung von Massenentlassungen massiv entlastet werden. Denn beabsichtigen Arbeitgeber derzeit eine größere Anzahl von Arbeitnehmern innerhalb von 30 Kalendertagen zu entlassen, sodass die Schwellenwerte nach § 17 Abs. 1 KSchG überschritten werden, haben sie vor der Umsetzung der beabsichtigten Entlassungen nach § 17 Abs. 1, 3 KSchG eine Massenentlassungsanzeige bei der zuständigen Agentur für Arbeit einzureichen. Ist in dem betroffenen Betrieb des Arbeitgebers zusätzlich ein Betriebsrat gebildet, so haben die Arbeitgeber nach § 17 Abs. 2 KSchG noch vor der eigentlichen Anzeige der Massenentlassungen mit dem Betriebsrat ein Konsultationsverfahren durchzuführen.

Da auf der einen Seite die Anforderungen an eine ordnungsgemäße Entlassungsanzeige durch zahlreiche instanzgerichtliche Urteile immer weiter erhöht wurden und auf der anderen Seite durch das von dem BAG entwickelte Sanktionssystem die Unwirksamkeit der Kündigung drohte, war für Arbeitgeber mit Massenentlassungen bisher stets ein enormes Risiko verbunden. Entsprechend akribisch werden aktuell Massenentlassungsanzeigen vorbereitet, um jegliche Fehlerquelle auszuschließen. Diesem Risiko könnte durch die gestrige Entscheidung des BAG in Zukunft ein Riegel vorgeschoben werden.

Mit seiner gestrigen Entscheidung reiht sich der Sechste Senat in die Rechtsprechung des EuGH ein. Letzterer hat bereits am 13.07.2023 geurteilt, dass der von dem Arbeitnehmer geltend gemachte Verstoß seines Arbeitgebers gegen § 17 Abs. 1, 3 KSchG nicht den Zweck habe, den von einer Massenentlassung betroffenen Arbeitnehmern Individualschutz zu gewähren und daher eine Kündigung nicht allein aufgrund eines Verstoßes gegen diese Pflicht unwirksam sei (EuGH, Urteil vom 13. Juli 2023 – C-134/22).

Ganz aufatmen können Arbeitgeber jedoch noch nicht. Da sich aus dem Vorhaben des Sechsten Senats, das Sanktionssystem des § 17 KSchG aufzugeben, eine entscheidungserhebliche Abweichung zur Rechtsprechung des Zweiten Senats des BAG ergibt, hat der Sechste Senat diesen gestern angefragt, ob er an seiner Rechtsauffassung festhalten werde. Die Verfahren wurden daher bis zur Beantwortung dieser Frage erneut ausgesetzt. Sollte der Zweite Senat an seiner Rechtsauffassung festhalten, ist der Große Senat des BAG anzurufen, der die maßgeblichen Rechtsfragen zu klären hat.

Aufgrund des EuGH-Urteils aus dem Juli dieses Jahres ist jedoch wohl eher zu erwarten, dass sich der Zweite Senat dem Sechsten Senat und dessen gestriger Entscheidung anschließen wird.

In diesem Fall würde das aktuell erhebliche Risiko für Arbeitgeber, dass alle Kündigungen aufgrund von einem einzigen Fehler im Massenentlassungsverfahren unwirksam sind, entfallen und die Vorschrift des § 17 KSchG wieder zu dem werden, was sie im Kern ist: eine Information an die örtlich zuständige Agentur für Arbeit für arbeitsmarktpolitischen Zweck. Für Arbeitgeber besteht also die Hoffnung auf eine signifikante Verbesserung im Rahmen der Durchführung von Restrukturierungsmaßnahmen. Fortsetzung folgt.