EuGH zu Zweifeln des BAG wegen Nichtigkeit der Kündigung bei Massenentlassung: Verfahrensvorschrift bezweckt nicht Individualschutz
Die Massenentlassungsrichtlinie („RICHTLINIE 98/59/EG DES RATES vom 20. Juli 1998 zur Angleichung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über Massenentlassungen“) ist eine Binnenmarktrichtlinie. Sie diente originär der Angleichung der Rechtsvorschriften über Massenentlassungen in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union.
Bereits aus dem Sinn und Zweck der Massenentlassungsrichtlinie ließ sich absehen, wie der Europäische Gerichtshof (EuGH) in dem Vorabentscheidungsverfahren des Bundesarbeitsgerichts (BAG) entscheiden musste. Mit seinem Urteil vom 13. Juli 2023 (C-134/22) entschied der EuGH nun, dass die in Art. 2 Abs. 3 Unterabs. 2 der Richtlinie verankerte arbeitgeberseitige Übermittlungspflicht einer Abschrift der schriftlichen Mitteilung für den Betriebsrat an die zuständige Behörde nicht dem Individualschutz des einzelnen Arbeitnehmers oder der einzelnen Arbeitnehmerin diene. Ein Verstoß kann daher nicht zur Nichtigkeit der Kündigung führen.
Hintergrund der Entscheidung
Der Arbeitgeber plante eine Massenentlassung. Er leitete das erforderliche Konsultationsverfahren mit dem Betriebsrat ein, übermittelte jedoch eine Abschrift der schriftlichen Mitteilung für den Betriebsrat nicht auch gleichzeitig an die Agentur für Arbeit. Im Übrigen zeigte der Arbeitgeber die Massenentlassung bei der zuständigen Agentur für Arbeit wenige Tage später an. Ein betroffener Arbeitnehmer machte nun geltend, dass die gegen ihn ausgesprochene Kündigung nichtig sei, da eine Zuleitung der Abschrift der schriftlichen Mitteilung für den Betriebsrat im Rahmen des Konsultationsverfahrens an die Agentur für Arbeit ausgeblieben war.
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) sah in der fehlenden Zuleitung der Abschrift an die Agentur für Arbeit einen Verstoß gegen die deutsche Regelung nach § 17 Abs. 3 S. 1 Kündigungsschutzgesetz (KSchG), aus der sich die gleichzeitige Zuleitungspflicht des Arbeitgebers ergibt. Diese Regelung findet ihre Entsprechung in der Massenentlassungsrichtlinie, jedoch ohne eine Zeitvorgabe für die Zuleitung. Weiterhin ordnet weder die deutsche noch die europäische Regelung Rechtsfolgen bei einem Verstoß an. Daher hat das BAG Zweifel geäußert, ob ein Verstoß gegen die Verfahrensvorschrift die Nichtigkeit der Kündigung als Rechtsfolge nach sich ziehe. Es müsse geklärt werden, ob die Regelung überhaupt Individualschutz bezwecke.
Entscheidung des EuGH
Dies hat der EuGH richtigerweise verneint. Die betreffende Regelung der Massenentlassungsrichtline ermögliche nur, dass die zuständige Behörde sich einen Überblick verschaffen könne. Zudem habe die zuständige Behörde, hier die Agentur für Arbeit, keine aktive Rolle im Konsultationsverfahren, sodass die Zuleitung der schriftlichen Mitteilung für den Betriebsrat an die zuständige Behörde nur Informations- und Vorbereitungszwecken diene. Die zuständige Behörde solle sich mit der beabsichtigten Massenentlassung im Allgemeinen befassen und nicht mit der individuellen Situation des einzelnen Arbeitnehmers oder Arbeitnehmerin.
Das BAG wird nun auf dieser Grundlage entscheiden müssen, dass die Kündigung des betroffenen Arbeitnehmers jedenfalls nicht aufgrund des Verfahrensverstoßes nichtig war. Die Entscheidungsgründe des EuGH liegen noch nicht vor, es bleibt abzuwarten, wie das BAG auf die Rechtsprechung des EuGH konkret reagiert.
Auswirkungen auf die Praxis
Die Entscheidung des EuGH ist insgesamt zu begrüßen. Ziel der europäischen und auch der deutschen Vorschrift ist insbesondere die Sicherstellung eines funktionierenden (grenzüberschreitenden) Arbeitsmarkts und die Vorbereitung der zuständigen Behörde für ihren Vermittlungsauftrag von arbeitssuchenden Personen. Der EuGH schenkt mit seinem Urteil dem Sinn und Zweck der Richtlinie wieder mehr Beachtung, aufgrund derer die deutsche Regelung erlassen worden ist und in dessen Lichte sie ausgelegt werden muss. Diese Wegweisung des EuGH ist erforderlich, denn die formellen Anforderungen an die Massenentlassungsanzeige sind ohnehin streng und sollten nicht überstrapaziert werden. Für das konkrete Verfahren sowie für die Frage nach den Rechtsfolgen bei Verstößen gegen Verfahrensfehler bleibt dennoch abzuwarten, welche Differenzierung das BAG herausarbeiten wird. Die Rechtsprechung des EuGH wird nicht ohne Weiteres auf andere Verstöße gegen Verfahrensvorschriften übertragen werden können, sondern wird jeweils nach dem Sinn und Zweck der Richtlinie bewertet werden müssen.