Betriebsbedingte Kündigung: Interessenausgleich mit Namensliste bei betriebsbedingter Kündigung
Am 17. August 2023 hat das BAG eine für die Restrukturierungspraxis wichtige Entscheidung getroffen (6 AZR 56/23). In dem Urteil ging es um die Vermutungswirkung eines Interessenausgleichs nach § 125 Abs. 1 S. 1 InsO. Bedeutung hat diese Entscheidung generell für betriebsbedingte Kündigungen, auch für solche, die nicht in der Insolvenz erklärt werden.
Hintergrund der Entscheidung
Wird über das Vermögen eines Unternehmens das Insolvenzverfahren eröffnet, ist es Aufgabe des Insolvenzverwalters, bestmöglich die Gläubigerinteressen zu befriedigen (§ 1 InsO). Häufig wird dieses Ziel durch eine Veräußerung des Betriebs oder Teilen davon, etwa im Wege der übertragenden Sanierung, erreicht. Findet sich kein Interessent, muss der Betrieb stillgelegt werden, um die Insolvenzmassen nicht weiter durch die Verpflichtung der Gehälter der Arbeitnehmer zu belasten. Da der Insolvenzverwalter im Sinne der bestmöglichen Gläubigerbefriedigung zumeist schnell handeln muss, kommt es in der Praxis durchaus vor, dass mangels eines attraktiven Erwerbers, relativ zeitnah nach Eröffnung des Insolvenzverfahrens die Entscheidung getroffen wird, den Betrieb zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt stillzulegen und den Arbeitnehmern wegen der prognostizierten Stilllegung des Betriebs betriebsbedingt zu kündigen. Bis zum Auslaufen der Kündigungsfristen werden Arbeitnehmer noch eingesetzt, um die Stilllegung umzusetzen, häufig auch, um eine „Ausproduktion“ vorzunehmen. Existiert ein Betriebsrat wird der Insolvenzverwalter darauf Wert legen, dass ein Interessenausgleich mit Namensliste (§ 125 Abs. 1 S. 1 InsO) abgeschlossen wird. Eine solche Namensliste erleichtert es, Kündigungsschutzklagen abzuweisen, weil – verkürzt formuliert – deren Wirksamkeit vermutet wird.
Es kommt vor, dass sich zeitlich nach dieser Stilllegungsentscheidung dann doch noch ein attraktiver Erwerber findet, der bereit ist, den Betrieb, der nach der Prognose des Insolvenzverwalters eigentlich stillgelegt werden sollte, zu übernehmen. Kommt es dann zum Abschluss und Vollzug eines Kaufvertrags stellt sich die Frage, ob die Kündigungen der Arbeitsverhältnisse, die wegen der Stilllegung erklärt wurden, dennoch wirksam sind oder, ob sich diese geänderten Umstände auf deren Wirksamkeit auswirken.
Sachverhalt
Über das Vermögen eines produzierenden Unternehmens mit ca. 400 Arbeitnehmers war am 01. März 2020 das Insolvenzverfahren eröffnet worden. Der Insolvenzverwalter vereinbarte am 29. Juni 2020 mit dem Betriebsrat einen Interessenausgleich mit Namensliste (§ 125 Abs. 1 S. 1 InsO). In dem Interessenausgleich wird als Betriebsänderung (§ 111 BetrVG) von einer Betriebsschließung nach einer Phase der Ausproduktion ausgegangen. Am 24. Juni 2020, also wenige Tage zuvor, wurde der Gläubigerausschuss vom Insolvenzverwalter informiert, u.a. darüber, dass „derzeit“ kein annahmefähiges Angebot eines Erwerbers für die Übernahme des Geschäftsbetriebs vorliegen würde und eine „Ausproduktion“ vorzunehmen sei. Die Worte „Stilllegung“ oder „Betriebsschließung“ finden sich in dem Protokoll des Gläubigerausschusses nicht wieder. Auch soll eine Stilllegung nach den Feststellungen der Tatsacheninstanzen nicht in dieser Deutlichkeit ggü. Geschäftspartnern und Kunden kommuniziert worden sein. Nach Abschluss des Interessenausgleichs mit Namensliste gem. § 125 Abs. 1 S. 1 InsO und eines Sozialplans sowie nach Erstattung einer Massenentlassungsanzeige wurde sämtlichen Arbeitnehmern noch am 29. Juni 2020 gekündigt, auch dem Kläger, der sich auf einer Namensliste befand und über dessen Kündigungsschutzklage das BAG zu entscheiden hatte. Die Kündigung des Arbeitsverhältnisses des Klägers sollte nicht zum nächstzulässigen Termin, sondern erst zum 31. Mai 2021 wirken, weil er bis dahin noch im Rahmen der „Ausproduktion“ eingesetzt werden sollte.
Es kam dann nachfolgend aber doch noch zu einer Veräußerung des Geschäftsbetriebs und somit nicht zur Stilllegung. Mit Kaufvertrag vom 22. Februar 2021, vollzogen am 1. Juli 2021, wurden wesentliche Betriebsmittel an ein Unternehmen, welches zuvor ein Hauptkunde des insolventen Unternehmens war, veräußert.
Entscheidung der Vorinstanz
Der Kläger meinte, die Kündigung wäre unwirksam, weil der Betrieb nicht stillgelegt werden sollte. Die Vorinstanz, das LAG Hamm (16 Sa 485/21), schloss sich dieser Argumentation an. Es ging davon aus, dass der Insolvenzverwalter nicht hinreichend dargelegt habe, dass tatsächlich eine Betriebsstilllegung geplant gewesen und die Fortführung oder Veräußerung des Geschäftsbetriebs nicht ausgeschlossen gewesen sei. Damit eine in der Zukunft liegende Betriebsstilllegung geeignet sein kann, eine betriebsbedingte Kündigung zu begründen, müsste diese Stilllegung „greifbare Formen“ angenommen haben. Solche „greifbaren Formen“ erkannte das LAG Hamm nicht. Es habe tatsächlich als Betriebsänderung ggf. eine Teilbetriebsstilllegung oder wesentliche Einschränkung der Betriebsorganisation gegeben, damit aber eine andere Betriebsänderung (§ 111 BetrVG) als die im Interessenausglich beschriebene Stilllegung. Damit – so das LAG Hamm – könne der Interessenausgleich, trotz Namensliste, nicht die Vermutungswirkung für die Annahme dringender betrieblicher Erfordernisse zur Rechtfertigung der Kündigung entfalten, weil sich die Vermutung des § 125 InsO nur auf die Betriebsänderung beziehen kann, die Gegenstand des Interessenausgleichs ist.
Urteil des BAG
Anders als die Vorinstanz hat das BAG festgestellt, dass der Sachvortrag des Insolvenzverwalters dazu, dass eine Stilllegung des Betriebs geplant war, hinreichend war. Die Kündigung – so das BAG – ist jedenfalls aufgrund der der Vermutung des § 125 Abs. 1 Nr. 1 InsO wirksam. Anders als die Vorinstanz hat das BAG hat angenommen, dass der Insolvenzverwalter hinreichend dargelegt hat, dass die der Kündigung zugrundeliegende Betriebsänderung iSd § 111 BetrVG, die Betriebsstillegung tatsächlich geplant war. Die damit eingreifende Vermutungswirkung des Interessenausgleichs mit Namenswirkung konnte der Kläger nicht widerlegen.
Bislang liegt nur die Pressemitteilung vor. Ob und inwieweit das BAG auch über den in der Vorinstanz hilfsweise gestellten Wiedereinstellungsanspruch entscheiden hat, ergibt sich aus dieser nicht. Ggf. hat dies dem Kläger hier aber nicht weitergeholfen, weil in der Insolvenz der Grundsatz gilt, dass der Wiedereinstellungsanspruch nur in Betracht kommt, wenn bei eigentlich geplanter Betriebsstilllegung, tatsächlich dann aber später erfolgenden Betriebsübergangs, ein Wiedereinstellungsanspruch nur durchsetzbar ist, wenn der Betriebsübergang noch vor Ablauf der Kündigungsfrist stattfindet (vgl. BAG 8 AZR 693/10). Dies war hier nicht der Fall.
Bedeutung für die Praxis
Die Entscheidung bestätigt verschiedene im Zusammenhang mit betriebsbedingen Kündigungen geltende Grundsätze:
Aus dem Instanzenzug wird zunächst deutlich, dass ein Interessenausgleich mit Namensliste seine Wirkung, nämlich die Möglichkeit, betriebsbedingte Kündigungen aus Arbeitgebersicht „leichter“ durchzusetzen, nur entfalten kann, wenn die im Interessenausgleich beschriebene Betriebsänderung auch den tatsächlichen Gegebenheiten entspricht. Erst wenn der der kündigende Arbeitgeber dies nachweisen kann, greift die Vermutungswirkung eines Interessenausgleichs mit Namensliste ein. Dies gilt nicht nur in der Insolvenz, sondern auch dann, wenn außerhalb eines Insolvenzverfahrens ein Interessenausgleich mit Namensliste (§ 1 Abs. 5 KSchG) vereinbart wird.
Dem Kündigungsschutzrecht liegt das sog. Prognoseprinzip zugrunde. Wird zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung eine Stilllegung geplant, kann dies geeignet sein, eine betriebsbedingte Kündigung wegen Betriebsstilllegung zu begründen, auch wenn sich die Prognose nicht realisiert, es später statt zu einer Stilllegung zu einer Veräußerung kommt.
Wer eine geplante Betriebsstillegung begleitet, muss darauf achten, dass aus den Gesamtumständen deutlich wird, dass die der Betriebsstilllegung zugrundeliegende Auflösung der Arbeits- und Produktionsgemeinschaft „greifbare Formen“ zum Zeitpunkt des Zugangs der Kündigungserklärung angenommen hat. Belegen lässt sich dies beispielsweise durch Protokolle (Gläubigerausschuss in der Insolvenz; Gesellschafterbeschluss oder Protokoll einer unternehmerischen Entscheidung der Geschäftsführung außerhalb der Insolvenz) und Kommunikation ggü. Geschäftspartnern, in der auf die geplante Stilllegung hingewiesen wird. Wird dies nicht beachtet, ist es nicht leicht, darzulegen und ggf. zu beweisen, dass wirklich eine Betriebsstilllegung geplant war und es sich nicht um eine unzulässige „Vorratskündigung“ handelt. Der Umstand, dass sich ein klagender Arbeitnehmer auf einer Namensliste befindet, hilft dann nicht weiter, weil die Vermutungswirkung eines Interessenausgleichs mit Namensliste nicht eingreift.